In einer alten Tankstelle in Clausthal-Zellerfeld schlägt das Herz einer ganz besonderen Werkstatt. Kein hipper E‑Bike-Store, kein Hochglanz-Flagshipstore – sondern ein Ort voller Geschichte, Ideen und handwerklicher Leidenschaft. Hier schraubt, tüftelt und entwirft Juliane Neuß Fahrräder für Menschen, für die es kaum passende Lösungen gibt: Kleinwüchsige, ältere Damen mit Angst vor hohen Rädern, Contergan-Geschädigte oder Kinder, deren erstes Rad mehr können muss als rollen.
Eine Kindheit mit Werkzeug – und eine Vision, die mitwächst
Juliane Neuß war sieben Jahre alt, als sie begann, an Fahrrädern zu schrauben. Was andere in Französisch oder Sport glänzten ließ, war bei ihr die Faszination für Technik und Ergonomie. 1993, als ihre Nichte geboren wurde, schwor sie sich: „Die lernt nicht auf irgendeinem unpassenden Kinderrad fahren.“ Also entwickelte sie ein mitwachsendes Kinderfahrrad – das später 20 Jahre lang von der Firma Patria produziert wurde. Heute ist dieses Rad nicht mehr auf dem Markt, doch Neuß kämpft für eine Neuauflage. Die Nachfrage steigt, besonders bei Eltern in der Stadt, deren Kinder dem Lastenrad entwachsen sind.

Spezialistin für das, was andere nicht bauen
Die Fahrradschmiede 2.0 ist weit mehr als eine Werkstatt – sie ist ein Ort, an dem Maßarbeit Alltag ist. Neuß baut Sitzroller für Erwachsene, Liegeräder oder komplett individualisierte Bikes für Menschen mit Behinderungen. „Ich kann bei jeder Größe und Proportion ein passendes Fahrrad bauen“, sagt sie selbstbewusst – und das mit gutem Grund. Mit ihrer technischen Ausbildung, jahrzehntelanger Erfahrung und ihrer Expertise in Fahrrad-Ergonomie hat sie ein Wissen aufgebaut, das in Deutschland fast einzigartig ist.
Und sie geht weiter: Für kleinwüchsige Kinder entwickelt sie angepasste Laufräder, dreirädrige Modelle für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen oder Räder für ältere, ängstliche Frauen mit tiefem Einstieg und kurzen Kurbeln. Wo andere aufgeben, beginnt in Clausthal die eigentliche Arbeit.

Zwischen Tankstelle, Forum und Chor: Eine Frau, viele Rollen
Die Fahrradschmiede ist kein anonymer Produktionsbetrieb. Sie ist Juliane Neuß. Die Werkstatt befindet sich in einer liebevoll umgebauten alten Tankstelle – barrierefrei, offen und funktional. Der Umbau war aufwendig, doch er passt zur Haltung der Gründerin: Wenn schon, dann richtig.
Neben der Werkstatt engagiert sich Neuß ehrenamtlich – im Kirchenvorstand, im Posaunenchor, in einer Initiative für einen lebenswerten Oberharz und für den Erhalt lokaler Strukturen. Sie macht sichtbar, was viele übersehen: dass auch Unternehmerinnen vor Ort einen entscheidenden Beitrag zum gesellschaftlichen Leben leisten.
Bekannt ist sie deutschlandweit: über ihre Webseite junik-hpv.de, über das Bromptonauten-Forum für Faltrad-Enthusiasten, über die Fahrradzeitschrift Fahrrad Zukunft, deren Redaktion sie mitgestaltet. Viele Kundinnen und Kunden kommen aus dem gesamten Bundesgebiet, teils sogar aus der Schweiz oder Österreich – und verbinden den Besuch bei ihr mit einem Urlaub im Harz. Für sie arbeitet Juliane Neuß auch mal sonntags. „Ich sage dann: Plant das Wochenende ein, ich bin für euch da.“
Zukunft gesucht: Für eine Idee, die weiterfahren soll
Der Betrieb ist kein Ausbildungsbetrieb, auch weil die Voraussetzungen fehlen – E‑Bikes, Scheibenbremsen und digitale Diagnosegeräte spielen hier keine Rolle. Gesucht wird dennoch: nicht sofort, aber perspektivisch. Eine Nachfolge für die Fahrradschmiede 2.0 – mit Leidenschaft, technischem Können und dem Willen, etwas Besonderes zu bewahren. „Ich gucke mir die Menschen in meinem Umfeld an und frage mich: Wer könnte in 10 oder 20 Jahren den Laden übernehmen?“, sagt sie. Die Arbeit selbst ist kein Job, sondern eine Haltung.
E‑Mail: info@junik-hpv.de
Webseite: Junik-hpv | Human Power Vehicles — Junik