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Die Geschich­te des Erich Pauli­cke: Wie ein Kind aus Oster­ode dem NS-Regime zum Opfer fiel

Geschich­te wird oft durch gro­ße Ereig­nis­se erzählt – Krie­ge, poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen, Umbrü­che. Doch wirk­lich begrei­fen lässt sie sich erst an den indi­vi­du­el­len Schick­sa­len. Das Leben von Erich Pauli­cke (1926–2007) ist ein sol­ches Schick­sal. Er steht exem­pla­risch für vie­le Opfer der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­fol­gung von Men­schen mit Behin­de­run­gen, deren Stim­men lan­ge unge­hört blie­ben.

Zugleich hat Pauli­cke durch sei­ne Kunst ein blei­ben­des Zeug­nis hin­ter­las­sen, das uns bis heu­te zum Nach­den­ken über Mensch­lich­keit, Erin­ne­rung und Ver­ant­wor­tung zwingt.

Die Anfän­ge von Erich Pauli­cke: Kind­heit und Ver­fol­gung

Erich Pauli­cke wur­de 1926 in Oster­ode am Harz gebo­ren. Schon früh galt er als „anders“, als „nicht norm­ge­recht“ – eine Zuschrei­bung, die im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land fata­le Fol­gen hat­te. Unter der NS-Ideo­lo­gie wur­den Men­schen mit Behin­de­run­gen als „lebens­un­wer­tes Leben“ stig­ma­ti­siert. Pauli­cke wur­de Opfer die­ser men­schen­ver­ach­ten­den Poli­tik.

Ab 1939 begann das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Regime mit sys­te­ma­ti­schen Depor­ta­tio­nen aus Anstal­ten. Auch Pauli­cke geriet in die­sen Stru­del. Er kam zunächst in die Roten­bur­ger Anstal­ten, spä­ter, 1943, nach Kauf­beu­ren-Irsee. Dort war er der soge­nann­ten „E‑Kost“ aus­ge­setzt – einer Man­gel­er­näh­rung, die oft gezielt ein­ge­setzt wur­de, um Men­schen lang­sam zu töten. Mit nur 18 Jah­ren soll er gera­de ein­mal 36,5 Kilo­gramm gewo­gen haben. Ob er zusätz­lich medi­zi­ni­schen Expe­ri­men­ten aus­ge­setzt war, ist nicht voll­stän­dig geklärt, doch Indi­zi­en deu­ten dar­auf hin.

Über­le­ben nach 1945 – Kunst als Spra­che des Erin­nerns

Pauli­cke über­leb­te wie durch ein Wun­der die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ver­fol­gung. Nach Kriegs­en­de kehr­te er in die Roten­bur­ger Anstal­ten zurück. Dort leb­te er bis zu sei­nem Tod im Jahr 2007. Doch anders als vie­le ande­re Betrof­fe­ne schwieg er nicht über das, was ihm wider­fah­ren war. Er begann, sei­ne Erfah­run­gen auf eine Wei­se aus­zu­drü­cken, die ihn nicht nur selbst ent­las­te­te, son­dern auch die Öffent­lich­keit erreich­te: durch Kunst.

In der Bild­ne­ri­schen Werk­statt der Roten­bur­ger Wer­ke ent­wi­ckel­te Erich Pauli­cke eine eige­ne, aus­drucks­star­ke Bild­spra­che. Sei­ne Wer­ke, sei­en es Male­rei­en, Plas­ti­ken oder Col­la­gen, sind geprägt von Sym­bo­len, von exis­ten­zi­el­len Fra­gen, von Bil­dern des Lei­dens und Über­le­bens. Titel wie „über leben“ deu­ten an, dass sein Werk weit über das Per­sön­li­che hin­aus­geht.

Die Kunst wur­de für ihn zur Mög­lich­keit, das Unsag­ba­re sicht­bar zu machen. Sie war Erin­ne­rung, Ver­ar­bei­tung und Kom­mu­ni­ka­ti­on zugleich. In sei­nen Arbei­ten misch­ten sich auto­bio­gra­fi­sche Spu­ren mit uni­ver­sel­len Aus­sa­gen über Gewalt, Angst, aber auch über Hoff­nung und Beharr­lich­keit. Sei­ne Wer­ke fan­den Ein­gang in Aus­stel­lun­gen und mach­ten ihn in künst­le­ri­schen Krei­sen bekannt.

Er war der letz­te Über­le­ben­de: Erin­ne­rung und Ver­mächt­nis

Als letz­ter Über­le­ben­der unter den rund 800 Men­schen, die aus den Roten­bur­ger Anstal­ten wäh­rend des NS-Regimes depor­tiert wor­den waren, hat­te Pauli­cke eine beson­de­re Rol­le. Er war nicht nur ein Opfer, son­dern ein leben­di­ges Zeug­nis. Sei­ne Bio­gra­fie sen­si­bi­li­siert dafür, wie sehr die Ver­fol­gung von Men­schen mit Behin­de­run­gen im öffent­li­chen Gedächt­nis lan­ge ver­drängt wor­den ist. Erst spät fan­den sei­ne Geschich­te und sei­ne Kunst Aner­ken­nung.

Pauli­cke starb am 29. März 2007 in Roten­burg. Doch sein Ver­mächt­nis lebt fort – in sei­nen Kunst­wer­ken, in Aus­stel­lun­gen, in Gedenk­ver­an­stal­tun­gen. Sein Name steht heu­te nicht nur für ein indi­vi­du­el­les Schick­sal, son­dern auch für das kol­lek­ti­ve Erin­nern an die Opfer der NS-„Euthanasie“.

Was wir aus der Geschich­te von Erich Pauli­cke ler­nen kön­nen

Das Leben von Erich Pauli­cke zeigt in bedrü­cken­der Deut­lich­keit, wel­che Grau­sam­keit eine Ideo­lo­gie ent­fes­seln kann, die Men­schen in „lebens­wert“ und „lebens­un­wert“ ein­teilt. Es zeigt zugleich, dass Über­le­ben mehr sein kann als ein bio­lo­gi­sches Fak­tum: Pauli­cke über­leb­te nicht nur, er fand eine Form, sei­ne Erfah­run­gen zu arti­ku­lie­ren und wei­ter­zu­ge­ben.

Damit wird er zum Mah­ner für die Gegen­wart. Sei­ne Kunst ruft uns dazu auf, wach­sam zu sein gegen­über Aus­gren­zung und Men­schen­feind­lich­keit – und im schein­bar Schwa­chen das Mensch­li­che zu erken­nen. Erich Pauli­cke hat uns gelehrt, dass Kunst Erin­ne­rung bewah­ren und Mensch­lich­keit ver­tei­di­gen kann.

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